Shadowcaster hat es schön gesagt: Wir (der gemeine Deutsche) WOLLEN gar nicht, dass sich die Türken integrieren, denn das bedeutet, dass sie unsere Nachbarn werden und ihre Kinder unsere Schulen besuchen. Gott bewahre! (pun intended)
In der ZEIT stand mal ein schöner Artikel zu der Integrationsdebatte, in dem darauf hingewiesen wurde, zu Recht wie ich finde, dass die meisten Bürger, die laut gegen den "Islam" schreien keinen einzigen Moslem kennen. Die wohnen schön in ihren Häusern im Speckgürtel oder in gentrifizierten Stadtvierteln und schicken Sophie und Niklas auf Privatschulen.
Aber das ist eigentlich total offtopic.
Zur Europa-Integration ist sind bisher die "geographische" und die kulturelle Karte gespielt worden. Eigentlich ist beides eins. Und dann die Wirtschaft.
Zur Geographie: Europa ist doch mehr als eine Landmasse, die auf der europäischen Platte ruht. Europa ist eine Idee, ein Projekt. Wenn du so willst, müsstest du die einzelnen Länder nach ihren geographischen und nicht den politischen Grenzen ziehen. Und dann steckst du ziemlich im Schlamassel.
Besser und auch praktischer als die Geographie ist die Kultur geeignet, Europa zu definieren. Aber das ist auch schwierig. Ein europäische Kultur gibt es entweder seit 3000 oder 65 Jahren. Wenn man die alten Griechen als die Begründer einer europäischen Ideengeschichte definiert, schließt das alles Mögliche mit ein, z.b. Rom, das Mittelalter, die Rennaissance (Rückbesinnung auf antike Kultur), die Aufklärung, den Kolonialismus, Weltkriege und europäische politische Einigung. Und bis vor 65 Jahren haben Europäer frühlich auf Europäer eingehackt, geschossen, gewürgt, und andere Greuel begangen. Danach auch noch (Jugoslawien, Kosovo), aber da hat's nicht mehr so viel Spaß gemacht. Und in der ganzen Zeit war die Türkei, bzw. die islamische Kultur dabei: griechische Siedlungen in Kleinasien, Kleinasien und der größte Teil des Mittelmeerraumes Teil des römischen Reiches, islamische Expansion mit Al-Andaluz in Spanien, Islamische Philosophie und Wissenschaft war führend bis in die 1500er Jahre, auch für Europa, Expansion des Osmanischen Reiches ("Die Türken vor Wien"), deren Reste noch im Balkan für Konflikte sorgen. Die Türkei in den Weltkriegen auf Seiten der Achse, dann schließlich die türkische Restauration unter Atatürk, der einen säkularen Staat nach europäischem Vorbild formte.
Wenn es eine "europäische Kultur" gibt, ist sie genauso von der türkischen berührt wie umgekehrt. Ich will damit nicht sagen, dass sie gleich oder auch nur so vergleichbar wäre wie die deutsche (wenn wir denn eine haben, Rom) und die, sagen wir, polnische. Aber im Sinne einer fortdauernden Ausgesetztheit kann man nicht sagen, dass wir uns völlig fremd sind.
Dabei darf man nicht vergessen, dass "Kultur" ein höchst schillerndes Ding ist. Viele Wissenschaften, meine eingeschlossen, verzweifeln an dem Begriff der sie selber definiert. Man kann Kultur nicht geographisch (heute zumindest nicht mehr), ethnisch (nicht mehr in komplexen Wirtschaftsgesellschaften mit ständiger Bevölkerungsfluktuation), religiös (außer im Eichsfeld
) oder materiell (Kuckucksuhren aus China) greifen. Die sinnvollste Definition von Kultur ist heute wohl die einer Idee, die von einer bestimmten Gruppe von Menschen geteilt wird und die sich an Symbolen und symbolischen Handlungen gestmachen. Sprich: Wir sind Deutsche, weil wir uns als Deutsche (Schweden, Niederländer, Malteser) verstehen. Wir haben eine Flagge, singen eine Hymne und jubeln für eine Nationalmannschaft. Wer wir sind, bestimmen wir.
Und auch wer wir nicht sind. damit wäre Itchys Frage beantwortet. Identität ist nur noch Aushandlungssache. Das verunsichert und macht Angst. Und wer Angst hat, reagiert aggressiv. Und natürlich gibt es genug Leute, die ihre Chance darin sehen, diese Verunsicherung auszunutzen und den Menschen weis zu machen, sie seien Opfer und keine Bestimmer. Mistens sind solche Typen selber Opfer.
So, Stunde beendet, ab Marsch in die Pause
@Baumstumpf: